Auf dem Nachhauseweg steht auf einmal eine Krähe vor mir. Langsam gehe ich auf sie zu, gebe ihr Zeit, wegzufliegen. Sie bleibt am Boden stehen, schaut mich ruhig an. Etwas stimmt nicht. Etwas stimmt mit der Silhouette ganz und gar nicht. Und da sehe ich, diesem Vogel fehlt der Schwanz.
In mir zieht sich alles zusammen. Die Krähe bewegt, was einmal Federn waren und sich jetzt nur noch als kleiner Knochenfächer spreizt. Dieser Vogel wird nie mehr fliegen. Wir stehen vor einander. Ich regungslos, sie trippelt wie ein altes Tantchen hin und her. In den Bäumen krähen die Kollegen von oben herab. Der kleine Matze neigt seinen Kopf und antwortet verstohlen, so als dürfe ein halber Vogel keine ganzen Laute mehr von sich geben.
Ich kann nicht einfach weitergehen - die kleine Krähe ist hilflos wie ein junges Hühnchen. Hat sie schmerzen? Wie fühlt sich ein Vogel, der nie mehr fliegen wird? Während ich mein Handy zücke, um dem Tierspital anzurufen, läuft eine ältere Dame an mir vorbei, packt die Krähe selbstverständlich auf ihren Arm und deutet mir, aufzuhängen.
Das sei ihr Vogel. Sie sei eine Tierheilerin und habe ihn vor Tierquälern gerettet, sagt der Mann neben ihr. Nicht weglaufen, schilt sie das Federhäufchen in ihren Armen und stellt es neben sich wieder auf den Boden. Zutraulich stochert die Krähe neben ihrer Retterin zwischen den Pflastersteinen nach etwas Interessantem.
Ich laufe weiter und denke über Wunder nach und über das Helfen und darüber, dass man auch nach schlimmen Schicksalschlägen gute Gründe zum Weiterleben finden kann. Die kleine Krähe ist der beste Beweis.
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2 Kommentare:
...so gerührt, angesichts der Worte die du dafür findest!
lieber Grüß
j.
Vielen Dank, J. Ich hatte selber Tränen in den Augen, weil ich nicht wusste, ob ich vor Mitleid zerfliessen, über diese Quäler eine Mordswut entwickeln oder über diesen Hoffnungsfunken des neuen Lebens und des Lebenswillens der Krähe gerührt und inspiriert sein wollte. :)
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