Ist verletzlich zu sein etwas Schlimmes - oder das Beste, das einem passieren kann? Seit ich klein war, gab es immer wieder Lehrer, Freunde, Fremde, die mir sagten, ich sei empfindsam, gebe (zu) viel von mir, von dem, was mich ausmacht Preis, würde Menschen zu vertrauensvoll an mich heranlassen und könne mich zu wenig von der Aussenwelt schützen. Nun, diese Menschen haben Recht. Aber ihre Kritik, oder sagen wir, ihre Versuche, mich vor den Konsequenzen zu schützen, haben etwas Essentielles verkannt: die Kraft, die von einem verletzlichen Menschen ausgeht und seine Gabe, echte, authentische, wahre Beziehungen zu anderen Menschen (und sich selbst) einzugehen.
Offen zu sein, verletzlich zu sein, heisst... wirklich zu sehen, wirklich zu fühlen, wirklich da zu sein, wirklich teilzunehmen, wirklich zu leben mit allem, was man ist.
Sich zu öffnen, birgt immer die Gefahr, getroffen und verletzt zu werden. Man kann dabei ziemlich auf die Fresse (entschuldigt) fallen. Oder man kann seine Unsicherheit mit Offenheit verwechseln - und dem Bedürfnis folgen, andere mit immer mehr Bezeugnissen von Verletzlichkeit dazu zu bringen, einen zu lieben, weil man im Innersten nicht daran glaubt, dass sich diese Menschen freiwillig und mit liebevoller Neugier Schicht für Schicht bis in den Kern seiner selbst vorwagen würden (was natürlich dazu führt, alle guten Geister zu vertreiben und die schlechten ein Schlachtfeld veranstalten zu lassen).
Wenn man offen ist, fühlt man den Schmerz in seinem Geist, seinem Körper und seinem Herz mit voller Kraft. Doch genau da liegt auch das grösste Geschenk der Verletzlichkeit. Denn sie lässt uns die Freude, das Glück, den Fluss des Lebens ebenso mit voller Kraft erleben und geniessen. Alles ist "mehr", alles ist "voller", wenn man es zulässt. Wer sich versteckt und verbarrikadiert, der stumpft ab. Im Guten wie im Schlechten.
Echt zu sein, verletzlich zu sein, heisst jedoch nicht, mit offenen Augen in jedes Messer dieser Welt zu rennen. Im Gegenteil: Als verletzlicher Mensch suche ich jeden Tag die Balance zwischen Geben und Nehmen. Ich öffne meine Augen, mein Hirn und mein Herz. Je mehr ich mich kenne, desto besser finde ich meinen Weg im Leben, desto besser kann ich wählen, was ich will und was mir gut tut. Auch wenn ich deswegen ab und zu unterwegs literweise Tränen, Trauer und Verzweiflung durchlebe – sie helfen mir, die Dinge loszulassen, die mich ultimativ davon abhalten, meine Herzenswünsche in vollster Lebensfreude zu leben.
Ich wähle, mich am Leben zu erfreuen. Gerade, wenn es mich testet, ob ich das wirklich will.
Ich wähle, mich überraschen zu lassen und zu vertrauen. Auch wenn ich am liebsten alles gleich hier und jetzt "fixen" würde.
Ich wähle, im Zweifelsfall nicht der Logik, sondern meinen Gefühlen zu folgen.
Ich wähle, Freundschaften zu beenden, die mich belasten.
Ich wähle, Beziehungen zu pflegen, die mein Herz singen lassen.
Ich wähle, mich nicht verrückt zu machen, wenn mir scheinbar alles genommen wird, was ich mir von Herzen wünsche.
Ich wähle, ohne Gewissheit zu lieben und zu hoffen, wenn es sich richtig anfühlt.
Ich wähle, mich der Führung meines lieben Gottes anzuvertrauen (auch wenn der manchmal schweigsamer ist als mein Vater und mein Bruder zusammen).
Ich wähle, mir jeden Tag das Herz zu fassen, mein vollstes, echtestes, einigartigstes ich zu sein.
Ich wähle, mir zu verzeihen, wenn ich es mal nicht schaffe.
Hier eine interessante Rede zu genau diesem Thema von
Brené Brown. Enjoy!
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